Held und Schutzengel

Es war an einem wunderschönen Sommertag. Der Himmel war blitzeblau, kein Wölkchen war zu sehen. Die Sonne schien angenehm warm über dem Dorf, wo die Kleine lebte.
Sie hatte zu Ostern ein Fahrrad geschenkt bekommen. Es war rosa und an den Seiten der Reifen waren weiße Streifen. Die Kleine war sehr stolz auf ihr Fahrrad. Zwar radelte sie noch mit den Stützrädern, was ihr ein bisschen gegen den Strich ging. Aber so zappelig, wie sie nun mal war, schien dies den Eltern sicherer.
An diesem herrlichen Sommertag fuhr die Kleine mit ihren Spielkameraden immer artig um den Block. Sie waren eben noch in einem Alter, wo das nicht langweilig wurde, wo die Fantasie sie durch fremde Welten radeln ließ. Das ausgelassene Zwitschern und Gackern der hellen Stimmen, ließ die Mütter in Ruhe ihren Haushalt führen.
Jäh würde diese Sommeridylle durch einen Entsetzensschrei gestört.  Die Kleine hatte die Kurve an der großen Wiese zu schnell genommen, oder hatte wieder einmal nach hinten, statt nach vorne geschaut. Das ließ sich nicht mehr klären und eigentlich war das jetzt auch egal. Jedenfalls war sie samt Fahrrad den Hang zur Wiese heruntergekullert und lag nun erstarrt inmitten von haushohen Brennnesseln. Die Brennnesseln hatten natürlich eine ganz normale Größe, aber für die Kleine waren sie in diesem Moment haushoch. Sie schrie wie am Spieß, bewegte sich ansonsten aber keinen Millimeter.
Beim ersten Schrei hatte ihr Vater alles stehen und liegen lassen. Wenn seine Kleine diese “Sirene“ anschmiss, war wirklich etwas passiert. Erleichtert sah er, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen war und machte sich, über die Wiese, auf zur Rettungsaktion.
Die Kleine sah ihren Vater zügig, aber locker über die Wiese kommen. Aber, dachte sie, wie sollte er mich hier herausholen, hier konnte doch keiner sie erreichen. Doch dann sah sie, wie ihr Vater einfach weiter durch die Brennnesseln watete. Ohne Zögern, mit sicherem Schritt.
„Bin schon da!“ rief er fröhlich.
Die Kleine war so tief beeindruckt, dass sie die Sirene schlagartig abgestellt hatte und  ungläubig zusah, was geschah. Ihr Vater marschierte einfach so in die Brennnesseln hinein, in Sandalen und Shorts!!  Zuerst hat ihr Vater sie aus den Brennnesseln gefischt, sie oben bei ihren Freunden abgesetzt, war dann wieder runter gelaufen, um auch ihr Fahrrad zu retten.
„Aber Papa“, piepste sie, „das brennt doch“.
Der Vater lachte herzhaft, stellte das Fahrrad vor ihr ab und sagte:
„Jetzt bekommen wir beide kein Rheuma.“ Dann wuschelte er über ihren Blondschopf und ging pfeifend davon.
Alle Kinder starrten ihm mit großer Bewunderung nach.
„Ein Schutzengel“, stellte einer fest.
„Ein Held!“, hauchte die Kleine, die das Brennen auf ihrer geröteten Haut gar nicht mehr spürte.
Und das blieb ihr Vater ab diesem Tag für den Rest ihres Lebens: Ein Held!
Und Rheuma haben beide tatsächlich nie bekommen!

Bildquelle: pixabay.com

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